In oppositionellen Kreises hört man (bereits seit einigen Jahren), das herrschende Gesellschaftsparadigma sei nicht nachhaltig, erodiere die eigenen Grundlagen, komme an sein Ende. Eine Umwälzung stehe mittelfristig bevor. Allerdings hat sich keine der konkreteren Vorhersagen, etwa zum Ende des Euros, erfüllt. Das System ist nach wie vor stabil.
Bereitet sich tatsächlich eine Umwälzung vor? Umwälzungen gehen oft plötzlich vor sich. Erst in der Rückschau kann man die kleinen Risse erkennen, die die vorherige und über längere Zeit erfolgte Aushölung der tragenden Gesellschaftsstruktur angezeigt haben. Gehlen sprach von den »Pochkäfern«, die die tragenden Strukturen der Gesellschaft und des Staates vor dem Ersten Weltkrieg nach und nach von innen ausgehöhlt hätten, bis das ganze bis dahin nach außen sicher stehende Gebäude plötzlich und überraschend und ohne Widerstand eingefallen sei. Ähnlich ging der Untergang der kommunistischen Gesellschaften und Regime in Osteuropa vor dreißig Jahren vor sich: Noch am 7. Oktober zog die Ehrenparade der Nationalen Volksarmee zum 40. Jahrestag der DDR an der Ehrentribüne mit der Staats- und Parteiführung vorbei. Elf Tage später, am 18. Oktober, musste Erich Honecker von der Funktion des Generalsekretärs, vom Amt des Staatsratsvorsitzenden und von der Funktion des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates der DDR zurücktreten. Nicht einmal vier Wochen später fiel die Berliner Mauer. In der DDR war alles in Auflösung; der Frühling der Freiheit brach an (und war dann auch schnell wieder vorbei).
Das Problem daran ist: Man erkennt die Anzeichen immer erst ex post. Noch im Sommer 1989, noch im Herbst wusste niemand, dass die DDR schon im November mitten in der Zeit der offenen Umwälzung sein würde. Beileibe nicht jeder Riss im Gebäude zeigt an, dass es bald einstürzen wird oder überhaupt nur strukturell geschwächt ist. Das Ausmaß des Werks der »Pochkäfer«, das sie nun einmal im Verborgenen tun, ist nicht abzuschätzen, nicht einmal für die Bewohner des Hauses. Daher gebe ich nichts auf Prognosen, die von einer baldigen Umwälzung sprechen. Das ist kaum etwas anderes als Geschwätz und Propaganda, Zweckoptimismus, um die eigene Klientel bei der Stange zu halten.
Dennoch ist es natürlich interessant, zu versuchen, das Pochen in den Wänden zu hören. Der Danisch hat im Beitrag Kopfloses: Neues von der Axt ein Ohr an die Wand gelegt. Ob er dabei aber das Gras wachsen hört oder nur das Zirpen der eigenen Grille, vermag ich nicht zu entscheiden.
In einem etwas anderen Zusammenhang brachte mich diese Woche jemand auf ein schönes Wort, das ich bis dahin nicht kannte: Notfruktation.
Sind Pflanzen, besonders Bäume krank oder alt, befinden sie sich im Verfall, kommt es zu einem letzten Aufbäumen der Bäume, indem sie nicht etwa Resourcen sparen, sondern im Gegenteil raushauen, was noch geht, noch schnell Früchte oder Samen oder was eben zur Fortpflanzung geeignet ist, produzieren und raushauen, was geht. Lägen etwa unter einer Buche besonders viele Eckern, sei das ein Zeichen, dass sie sehr krank oder alt ist und stirbt. Auch liest man dazu, dass das mitunter nicht mehr zu richtigen Früchten und so weiter reicht, sondern Notfrüchte, Notzapfen und so weiter erzeugen kann. Die Pflanze versucht eben, was noch geht.
Man kann sich überlegen, ob der immer höhere Propagandadruck durch Medien, Politik, Behörden ein zunehmendes Obsiegen oder eine Notfruktation der Linken ist.
Wenn ich so drüber nachdenke, ist die Presse längst im Zuständ der prämortalen Notfruktation.